die medizin zu den patienten bringen

Erik Brühlmann

SonntagsZeitung

23.10.2022

Neue Technologien kommen auch älteren Menschen mit Augenerkrankungen zugute – zum Beispiel bei der Behandlung und beim Monitoring von Krankheitsverläufen.

Die Digitalisierung schreitet voran – im medizinischen Bereich jedoch relativ schleppend. Zwar ist die Technologie für Projekte wie die digitale Krankenakte oder telemedizinische Lösungen vorhanden, die Umsetzung verläuft aber zögerlich. «Die mangelnde Innovationskraft fusst unter vielem anderen auf dem Einfluss verschiedenster Partikularinteressen und auf systemischen Eigenheiten», sagt Lucas Bachmann, Gründer und Präsident von medignition, einem Team von Forschern, Ärzten, Ingenieuren, Designern, Business-Analysten und Investoren, welches Start-ups im Bereich Digital Health initiiert.


«Doch das wird sich ändern müssen.» Der Mediziner und Epidemiologe verweist auf die prognostizierte demografische Entwicklung. Laut Bundesamt für Statistik ist bis 2040 ein Viertel der Schweizer Bevölkerung älter als 65 Jahre – und das führt zu einer wesentlichen Zunahme von Patienten mit altersbedingten Erkrankungen.


Im Bereich der Ophthalmologie – der Augenheilkunde – richtet sich das Augenmerk unter anderem auf chronische Netzhauterkrankungen wie das diabetische Makulaödem und die altersabhängige Makuladegeneration. Beide Erkrankungen führen unbehandelt zu schweren Sehstörungen. Bereits heute werden in der Schweiz rund 30 000 Personen wegen dieser Erkrankungen behandelt – Tendenz stark steigend. Weltweit wird erwartet, dass die Zahl der Patienten mit altersabhängiger Makuladegeneration, der häufigsten Ursache für Erblindung im Alter, bis 2040 um fast fünfzig Prozent auf 288 Millionen steigen wird.


«Ein Weg, den zunehmenden Druck auf behandelnde Ärzte zu verringern, ist, die Medizin näher zu den Patienten zu bringen und Medikamente mit längerer Wirkungszeit einzusetzen», sagt Lucas Bachmann. Die Pandemie hat dazu beigetragen, dass der Stein mit einer grösseren Geschwindigkeit als erwartet ins Rollen kommt. In vielen Ländern wurden ambulante, ophthalmologische Dienste weitgehend unterbrochen, entweder weil das Personal anderweitig benötigt wurde, oder weil Patienten sich aufgrund einer Ansteckungsgefahr nicht trauten, den Weg zum Facharzt auf sich zu nehmen. Plötzlich musste die Versorgung die Patienten erreichen. Vielerorts entwickelten sich Initiativen, um wenigstens ein Minimum sicherzustellen: Patientenmessungen zu Hause, telefonische Konsultationen und nicht zuletzt telemedizinische Dienste. «Es ist notwendig, diese Entwicklung weiter zu fördern, um nicht erst dann tätig zu werden, wenn der Druck auf das medizinische Versorgungssystem in der Schweiz irgendwann zu gross wird», ist Lucas Bachmann überzeugt.


Der Mediziner sieht zwei Wege, wie diese Entwicklung vonstattengehen könnte. «Einerseits werden Sprechstundenbesuche sinnvoller und effizienter werden müssen», sagt er. Das heisst: Patientinnen und Patienten gehen nur dann zum Arzt, wenn es wirklich angezeigt ist, und sie bringen die Vorinformationen gleich mit. Smartphone-Apps wie Alleye von Oculocare medical, einer Tochtergesellschaft von medignition, können dabei zu einem wichtigen Instrument werden. Die Augenmessungen sind einfach, die Daten werden den behandelnden Ärzten übermittelt. Und wenn diese Daten eine Augenerkrankung oder eine Verschlechterung des überwachten Zustands anzeigen, erfolgt eine Kontaktaufnahme.


Aber können Seniorinnen und Senioren die Vorarbeit überhaupt leisten? «Man unterschätzt die älteren Menschen», sagt Lucas Bachmann. «Viele sind mittlerweile durchaus in der Lage und willens, ein Smartphone zu benutzen und Apps anzuwenden.» Allfällige Hemmschwellen werden in Zukunft noch weiter abgebaut, wenn Digital Natives ins Pensionsalter und darüber hinaus kommen. Ein zweiter wichtiger Pfeiler ist die Verwendung moderner Therapiekonzepte, die seltener verabreicht werden müssen und somit Patienten, Patientinnen und das Gesundheitssystem entlasten.


Oft ist die Mobilität betagter Patientinnen und Patienten eingeschränkt; der Gang zum Augenarzt ist für sie eine mühsame Angelegenheit. Für sie wäre es von Vorteil, wenn sie diese Wege nur dann auf sich nehmen müssten, wenn es wirklich nötig ist. Hier könnte sich der Einbezug nicht-medizinischer Akteure in die ophthalmologische Betreuung auszahlen.


Eine mobile Augenklinik für Altersheime.

Anbieter häuslicher Versorgungsdienste könnten ebenso wie Pflegepersonal in Heimen und Alterswohneinrichtungen geschult werden. Die Patientinnen und Patienten erhielten auf diese Weise eine gut zugängliche medizinische Versorgung, und die zuweisenden Dienste verfügten über Informationen für die behandelnden Ärzte, sodass der eigentliche Facharztbesuch effizient gestaltet werden kann.


«Die technischen Möglichkeiten dafür sind vorhanden», sagt Lucas Bachmann. Mit medignition hat er die mobile Augenklinik «Augenmobil» entwickelt, die diese Stossrichtung verfolgt. «Das hilft auch zu verhindern, dass Augenerkrankungen nicht erkannt werden und Menschen dadurch ihre Sehkraft verlieren.»